Das Mikrobiom - Teil 2 - Modernes Leben mit gesunder Darmflora

Veröffentlicht am 23. Juni 2024 um 10:31

In Teil 1 unserer Blogreihe zum Mikrobiom des Darms stellten wir fest, dass unsere industriell geprägte Lebensweise mit einem Mangel an Vielfalt der im Darm lebenden Mikroorganismen verbunden ist. Dabei stützt sich ein gesunder Körper in hohem Maße gerade auf die Vielfalt im Darm. Sinkt die Vielfalt, können sogenannte Zivilisationskrankheiten die Folge sein (1). Auch in diesem Blog konzentrieren wir uns auf die mengenmäßig alles überragende Gruppe der Bakterien. Einer der Hauptverursacher des Artensterbens in unserem inneren Biotop zeigt sich bei einem Blick auf die Entwicklung unserer Ernährung: ein permanenter Mangel an Ballaststoffen.

Erhöhung der Ballaststoffzufuhr
Dabei verhält es sich mit den verschwundenen Bakterienarten wie mit einer ausgestorbenen Tierspezies. Obwohl auf ganzen Landstrichen herrlich saftige Gräser und Sträucher sprießen, siedeln sich keine Mammuts an. Steigern wir nun plötzlich unsere Ballaststoffzufuhr, kommen die Bakterien trotzdem nicht zurück.

Für ein differenziertes Bild müssen wir zwischen zwei Gruppen von Bakterien unterscheiden. Es gibt Bakterienarten, deren Auftreten stark von einem spezifischen Nahrungsmittelangebot abhängt. Fehlt diesen Bakterien ihr bevorzugter Ballaststoff, so sinkt ihre Population unter die Nachweisgrenze. Umgekehrt tauchen diese Bakterien wieder auf, sobald man ihre Lieblingsspeise wieder auf den Einkaufszettel packt. Die andere Gruppe von Bakterienstämmen ist durch viel stabilere Populationsgrößen gekennzeichnet. Die Vertreter dieser Gruppe kommen demnach mit einem breiteren Spektrum an Nahrungsmitteln zurecht.

Es lässt sich zeigen, dass die in der industrialisierten Welt ausgestorbenen Darmbakterien meist zu der ersten, stark schwankenden Gruppe gehören (siehe erster Teil www.essenmitherzundverstand.de). Hält der Mangel an Ballaststoffen über einen langen Zeitraum - über Generationen - an, können sich diese Bakterienpopulationen nicht mehr erholen und gehen permanent verloren. Ein Lichtblick bei uns ist, dass die Mitgliederzahl der stark schwankenden Bakterienarten noch nicht ganz auf Null abgesunken ist. Wer sich über längere Zeit ballaststoffarm ernährt und anschließend die Ballaststoffaufnahme deutlich erhöht (etwa 40g/Tag), der kann damit rechnen, dass die Bakterien dieser Restbestände zurückkehren und ihren Dienst für einen gesunden Körper wieder aufnehmen (1). Der Anstieg der Bakterienvielfalt hilft bei zahlreichen Erkrankungen, sei es Übergewicht, dem metabolischen Syndrom, entzündlichen Darmzuständen (2) oder bei der Krebsprävention (1). Ballaststoffe, denen man solche gesundheitlich positiven Wirkungen nachweist, werden Präbiotika genannt.

Die Existenz von Restpopulationen führt uns auch vor Augen, dass wir weiterhin etwas zu verlieren haben. Bei fortschreitender industrieller Verarbeitung unserer Lebensmittel und Reduzierung wichtiger Ballaststoffanteile, können wir uns vorstellen, dass auch die letzten schwankenden Bakterienpopulationen irgendwann verschwunden sein werden.

Interessant ist hierbei die Randnotiz einer Sudie, dass von der Vielfalt an Obst und Gemüse, die bei Probanden auf dem Tisch landet auch auf die Vielfalt des Mikrobioms geschlossen werden konnte (1). Wie wir meinen, kann daraus eine handfeste Empfehlung abgeleitet werden: esst ein breites Angebot an Obst und Gemüse. Somit können die noch bestehenden Bakterienarten erhalten werden.

Die Vielfalt des Mikrobioms steigern
Ballaststoffe helfen also, unser Mikrobiom zu erhalten und wirken so gegen eine Ausbreitung von Zivilisationskrankheiten. Ist es darüber hinaus denkbar, die Entwicklung dieser Krankheiten umzukehren und die Zahl ihres Auftretens gar zu reduzieren? Richten wir den Blick auf einige Naturvölker, dann fällt auf, dass diese Krankheiten tatsächlich nicht vorkommen. Gut dokumentiert ist dies bei einem Stamm in Tansania, den Hadza. Besonders aufschlussreich ist, dass die Vielfalt im Mikrobiom eines Hadza unsere, industriell geprägte, um ein Vielfaches übersteigt. Genau das, so vermuten Forscher, ist ein Eckpfeiler einer dauerhaften Gesundheit (siehe erster Teil www.essenmitherzundverstand.de). Um Zivilisationskrankheiten zurückzudrängen, muss zumindest die Vielfalt des Mikrobioms wieder gesteigert werden. Der einzige Weg dorthin ist, dem dezimierten Mikrobiom bisher nicht vorhandene Bakterien zuzuführen.

Dabei müssen wir der reflexartigen Versuchung widerstehen, uns das Mikrobiom eines Hadza in den Bauch zu wünschen. Schließen wir zunächst diesen naheliegenden Ansatz zur Ansiedlung aus. Dafür betreten wir wieder unser äußeres Ökosystem als Analogie zu unserem Mikrobiom. Wäre es hier sinnvoll, Tiere oder Pflanzen aus Tansania anzusiedeln, nur weil diese in ihrer angestammten Umgebung wichtige Beiträge zum Erhalt ihres Lebensraumes leisten? Passiert es doch, dann setzen die neuen Arten das Ökosystem unter Stress mit unabsehbaren Folgen.

Schon diese Analogie zeigt, dass die Bakterienarten zu unserem Lebensstil und unserer Umwelt passen müssen (3).

Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen. Das Bifidobakterium gilt bei uns als gesundheitsförderlich. Studien bescheinigen diesem Vertreter, sich günstig bei Darmkrebs, Durchfall, Reizdarm und Verstopfung auszuwirken (4). Bei den Hadzas sind diese Zivilisationskrankheiten unbekannt, ihr Mikrobiom zeigt trotzdem kein Anzeichen eines einzelnen Bifidobakeriums (5). Welche Art man allerdings bei den Jägern und Sammlern häufig antrifft, das sind Bakterien aus der Gruppe Treponema. Ein Aufkommen dieser Bakterien ist bei uns meldepflichtig, schließlich sind Unterarten dieser Gruppe für Syphilis und Frambösie (chronische Hautinfektion (dahw.de)) verantwortlich. Im Hadzadarm reagieren diese Winzlinge aber kaum aggressiv. Im Gegenteil, sie ordnen sich dem Hadza-Superorganismus unter und beteiligen sich als wertvolle Helfer bei der Verdauung von pflanzlicher, faserreicher Kost (5).

Somit passt ein Bifidobakterium zu uns und unserer Lebensweise. Wir haben uns an eine Versorgung mit Milch und Weizen (3) in aller Variation angepasst und bieten damit Bifidobakterien einen guten Nährboden. Dem entgegen sucht man auf dem Speiseplan der Hadza Milch- und Getreideprodukte vergeblich. Dort finden sich faserreiche Pflanzen in Hülle und Fülle.

Die Probiotika
Der erste Schritt zur Steigerung der Vielfalt unseres Mikrobioms muss also sein, Bakterienarten zu identifizieren, die sich für eine Bereicherung unserer Darmflora eignen. Vertreter, die wie die schon genannten Bifidobakerien zu dieser Gruppe zählen, werden als Probiotika bezeichnet. Das sind lebende Bakterien, die bei Einnahme gesundheitsfördernde Wirkungen zeigen.

Fermentierte Lebensmittel
Anhand zahlreicher Studien ist bekannt, dass besonders fermentierte Lebensmittel solche probiotische Eigenschaften besitzen. Und auf diese Lebensmitteln gehen wir im Folgenden ein, geben aber zu bedenken, dass Probiotika und Fermente nicht immer gleichzusetzen sind (6).

Schon früh in seiner Zivilisationsgeschichte nutzte der Mensch die Fermentation, um Lebensmittel haltbar, den Verzehr sicher zu machen und das Geschmackserlebnis zu verfeinern (7). Funde von Bier aus fermentiertem Getreide werden auf 13.000 Jahre vor unserer Zeit datiert. Nun fragt man sich, wie kann es sein, dass sich unser Organismus in dieser kurzen Zeitspanne (13.000 Jahre sind ein Wimpernschlag in der Evolutionsgeschichte) an eine neue Verarbeitungsmethode anpassen konnte. Anpassen heißt hier, dass der Mensch zusammen mit seinem Mikrobiom eine in der Natur einzigartige Präferenz für und Verträglichkeit mit fermentierter Nahrung zeigt. Vermutungen deuten an, dass hinter der gesunden Wechselwirkung von Mensch, Mikrobiom und Fermenten
ein viel längerer Evolutionsprozess steckt, der schon vor 10 Millionen Jahren bei unseren urzeitlichen Vorfahren begonnen haben könnte (8).

Nachdem Jäger- und Sammlergesellschaften sich zur sesshaften Lebensweise hin wandelten, begann der Mensch die Vorzüge fermentierter Lebensmittel immer mehr für sich zu entdecken und auszunutzen. Vor 7000 Jahren wurde im mittleren Osten, vor allem in Ägypten die Milchfermentation entwickelt. Die Kuhmilch diente dabei als Ausgangsstoff für Sauermilch und Käse (9). Das wohl bekannteste Erzeugnis aus fermentierter Milch ist der Joghurt. Schriften zeigen schon 6000 v. Chr. Hinweise auf die gesundheitsfördernde Wirkung dieses Milchferments (10). Angesichts der Vorzüge fermentierter Lebensmittel erschloss sich der Mensch ein immer breiteres Spektrum  sowohl tierischer als auch pflanzlicher Quellen als Grundlage zur Fermentation (6).

Beeindruckende Entdeckungen lenkten ab den frühen 1900 Jahren den Blick auf Bulgarien. Zunächst fand Dr. Stamen Grigorov die bei der Joghurtherstellung entscheidenden Bakterienstämme. Der Wissenschaftler konnte zeigen, dass diese Stämme nicht zur natürlichen Darmflora des Menschen gehören. Der russische Forscher und Nobelpreisträger Ilya Mechnikov nahm die Ergebnisse von Dr. Grigorov auf und führte schließlich die erstaunlich hohe Zahl von 100 jährigen in Bulgarien auf den Konsum ihres traditionellen Nahrungsmittels zurück, den Joghurt (bacillusbulgaricus.com, 11). Wer hätte gedacht, dass nur zwei Kulturen, die Milchsäurebakterien Lactobacillus bulgaricus und Streptococcus thermophilus unser Mikrobiom derart bereichern, dass es uns gar länger leben lässt.

In Anbetracht der lange bekannten positiven Auswirkungen fermentierter Lebensmittel auf unsere Gesundheit und unser Immunsystem (12) wundert es, dass deren Verbreitung heutzutage so gering ist. Beispielsweise steht täglich in den USA nur bei 6% der Bevölkerung der Joghurt auf dem Tisch. Gemessen an voranschreitenden Krankheiten, die auf ein karges, einseitiges Mikrobiom zurückgeführt werden können, muss man den flächendeckend niedrigen Konsum von Fermenten als verpasste Chance interpretieren(10). Im internationalen Ländervergleich finden sich Stand 2015 fermentierte Nahrungsmittel nur auf einer einzigen Empfehlungsliste, das ist Dietary Guidelines for Indians (2010) (13).

Ausblick
Hier halten wir inne und lassen die Hauptpunkte Revue passieren. Vor der enormen Kulisse an Wechselwirkungen lassen sich zwei Säulen nennen, auf die ein gesundes Zusammenleben zwischen Körper und Mikrobiom aufbauen kann. Die eine besteht aus einer ausreichenden Zufuhr von Ballaststoffen. Für eine moderne industrialisierte Gesellschaft stellt der Verzehr von fermentierten Lebensmitteln die zweite Säule dar. Das ist kein Widerspruch, wie man an der steigenden Zahl von Startups sieht, die in innovativen Fermenten ihre Chance sehen. Warum aber bei dem Thema Mikrobiom die Begriffe Ballaststoffe und Fermente eine unzulässige Verallgemeinerung darstellen, das beleuchten wir im kommenden dritten Teil dieser Blogreihe.

Quellen

  1. Julien Tap, Jean‐Pierre Furet, Martine Bensaada, Catherine Philippe, Hubert Roth, Sylvie Rabot, Omar Lakhdari, Vincent Lombard, Bernard Henrissat, Gérard Corthier, Eric Fontaine, Joël Doré, Marion Leclerc. Gut microbiota richness promotes its stability upon increased dietary fibre intake in healthy adults. Environmental Microbiology, 2015; 17 (12) DOI: 10.1111/1462-2920.13006
  2. Hannah C. Wastyk, Gabriela K. Fragiadakis, Dalia Perelman, Dylan Dahan, Bryan D. Merrill, Feiqiao B. Yu, Madeline Topf, Carlos G. Gonzalez, William Van Treuren, Shuo Han, Jennifer L. Robinson, Joshua E. Elias, Erica D. Sonnenburg, Christopher D. Gardner, Justin L. Sonnenburg. Gut-microbiota-targeted diets modulate human immune status. Cell, 2021; 184 (16) DOI: 10.1016/j.cell.2021.06.019
  3. Jing Lu, Li Zhang, Hao Zhang, Yutao Chen, Jianxin Zhao, Wei Chen, Wenwei Lu, Mingkun Li. Population-level variation in gut bifidobacterial composition and association with geography, age, ethnicity, and staple food. npj Biofilms and Microbiomes, 2023; 9 (1) DOI: 10.1038/s41522-023-00467-4
  4. Amy O’Callaghan, Douwe van Sinderen. Bifidobacteria and Their Role as Members of the Human Gut Microbiota. Frontiers in Microbiology, 2016; 7 DOI: 10.3389/fmicb.2016.00925
  5. Stephanie L. Schnorr, C, Marco ela, Simone Rampelli, Manuela Centanni, Consol, Clarissa i, Giulia Basaglia, Silvia Turroni, Elena Biagi, Clelia Peano, Marco Severgnini, Jessica Fiori, Roberto Gotti, Gianluca De Bellis, Donata Luiselli, Patrizia Brigidi, Audax Mabulla, Frank Marlowe, Am Henry, a G., Alyssa N. Crittenden. Gut microbiome of the Hadza hunter-gatherers. Nature Communications, 2014; 5 (1) DOI: 10.1038/ncomms4654
  6. Gabriel Vinderola, Paul D. Cotter, Miguel Freitas, Miguel Gueimonde, Hannah D. Holscher, Patricia Ruas-Madiedo, Seppo Salminen, Kelly S. Swanson, S, Mary Ellen ers, Christopher J. Cifelli. Fermented foods: a perspective on their role in delivering biotics. Frontiers in Microbiology, 2023; 14 DOI: 10.3389/fmicb.2023.1196239
  7. Mohamed Mannaa, Gil Han, Young-Su Seo, Inmyoung Park. Evolution of Food Fermentation Processes and the Use of Multi-Omics in Deciphering the Roles of the Microbiota. Foods, 2021; 10 (11) DOI: 10.3390/foods10112861
  8. Katherine R. Amato, Elizabeth K. Mallott, Paula D’Almeida Maia, Maria Luisa Savo Sardaro. Predigestion as an Evolutionary Impetus for Human Use of Fermented Food. Current Anthropology, 2021; 62 (S24) DOI: 10.1086/715238
  9. Shaker M. El-Gendy. Fermented Foods of Egypt and the Middle East. Journal of Food Protection, 1983; 46 (4) DOI: 10.4315/0362-028x-46.4.358
  10. Mauro Fisberg, Rachel Machado. History of yogurt and current patterns of consumption. Nutrition Reviews, 2015; 73 (suppl 1) DOI: 10.1093/nutrit/nuv020
  11. Giovanni Gasbarrini, Fiorenza Bonvicini, Annagiulia Gramenzi. Probiotics History. Journal of Clinical Gastroenterology, 2016; 50 (Supplement 2) DOI: 10.1097/mcg.0000000000000697
  12. Mónica Olivares, Ma Paz Díaz-Ropero, Nuria Gómez, Saleta Sierra, Federico Lara-Villoslada, Rocío Martín, Juan Miguel Rodríguez, Jordi Xaus. Dietary deprivation of fermented foods causes a fall in innate immune response. Lactic acid bacteria can counteract the immunological effect of this deprivation. Journal of Dairy Research, 2006; 73 (4) DOI: 10.1017/s0022029906002068
  13. Stephanie Chilton, Jeremy Burton, Gregor Reid. Inclusion of Fermented Foods in Food Guides around the World. Nutrients, 2015; 7 (1) DOI: 10.3390/nu7010390

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